Demokratie ist der artikulierte Anspruch auf Volksherrschaft
von Dagmar Comtesse (Münster)
Wann immer sich Menschen in Kollektiven sammeln, stellt sich die Ordnungsfrage: Wer entscheidet was? Und wie kann man möglichst viele Kollektivmitglieder dazu bringen, zumindest jene Regeln zu akzeptieren, durch welche Entscheidungen zustande kommen? Demokratie ist die Bezeichnung dafür, dass alle gezählten Mitglieder eines Kollektivs kausal an der Festlegung und Aufhebung von Regeln und Entscheidungen mitwirken können. Damit ist die Geschichte der Demokratie auch immer die Geschichte der Nicht-Demokratie, jene der nicht gezählten Kollektivmitglieder.
Die Analyse des Begriffs Demokratie fördert nur prima facie klar und deutlich zwei Elemente zu Tage: Die Herrschaft des Volkes. Wer das Volk ist oder wer diesem (von wem oder was auch immer) zugerechnet wird, ist dabei genauso problematisch wie der Herrschaftsbegriff, der Entwürfe von Herrschaftsabwehr oder voll entfalteter kollektiver Autonomie bezeichnen kann. Zunächst gehört Demokratie zu den Begriffen, Konzepten und Theorien politischer Herrschaft. Die Ähnlichkeit verschiedener demokratischer Ordnungsvorstellungen liegt im Bezug auf das Kollektivsubjekt, das Herrschaft ausübt. Demokratische Herrschaft bezeichnet in allen Theorien und Konzepten die kausale Einwirkung aller zählbaren Mitglieder auf die Herrschaftsordnung des Kollektivs. Die differentia specifica zu anderen Herrschaftsvorstellungen liegt in dem unqualifizierten Herrschaftszugang, der allein durch das Merkmal der Mitgliedschaft konstituiert wird. Es ist folglich von entscheidender Bedeutung, wie der Zählvorgang der Mitgliedschaft gefasst ist. Jeder Ausschluss vom Zählvorgang (Geschlecht, geographische Herkunft, Alter, kognitive Qualifikationen, Hautfarbe etc.) verkleinert die Demokratie. Keine Herrschaft der Besten, der Wissenden, der Fähigsten, der dem Allgemeinwohl-Verpflichteten ist demokratisch. Insofern ist Demokratie immer Herrschaft durch das Volk, nicht aber notwendigerweise Herrschaft für das Volk. Es ist möglich, dass demokratische Ordnungen Politiken generieren, die nicht die Bedürfnisbefriedigung aller Mitglieder garantieren und umgekehrt.
In der Geschichte des demokratischen Denken und Handelns wurden und werden Volksbegriff und Herrschaftsbegriff in verschiedenen Weisen definiert und gebraucht. Um ein Gespür für die verschiedenen Semantiken, Macht- und Geltungsansprüche des jeweiligen Gebrauchs zu vermitteln, die auch entsprechend verschiedene Handlungsperspektiven oder Bewertungsmaßstäbe für existierende politische Ordnungen nach sich ziehen, werden im Folgenden exemplarisch drei Varianten von Volk- und Herrschaftskonzepten in ihrem Zusammenhang vorgestellt. Die erste Variante kann man grob als ‚ontologisch‘ bezeichnen; sie geht von einer im (menschlichen) Sein verankerten Vorstellung von Demokratie aus. Die zweite, juridische, Variante fasst Demokratie in erster Linie rechtsförmig. Die dritte Variante geht von einer diskursiven Konstitution des Sozialen aus und konzipiert Volk und Herrschaft als diskursive Strategie.
Ontologische Variante
Obwohl der historiographische Blick auf die attische Demokratie klar einen militärisch-administrativen Gebrauch des Wortes „demos“ auf Grundlage von Einberufungslisten im Zuge der Kleisthenischen Reformen sichtbar macht, ist die aristotelische Bestimmung des Begriffs „demos“ für die philosophische Tradition prägend. Aristoteles bestimmt den demos telelogisch: Nur jene männlichen Mitglieder des Kollektivs, die in einem griechisch sprachigen Gebiet frei geborenen sind, „können mit dem Verstand weitblickend fürsorgen“ und daher „von Natur herrschen“[1]. Frauen und Nicht-Griechen sind dagegen das, „was [nur] mit dem Körper arbeiten kann“ und daher „von Natur Sklave“[2]. Der demos bildet sich hier aus den freien griechischen Männern, die mit einem letztlich kosmologischen Telos ausgestattet sind, über andere zu herrschen und von Freien beherrscht zu werden. In beiden Fällen, in der militärisch-administrativen und der politisch-philosophischen Fassung, werden Frauen aus dem demos – also aus jenem Teil des Kollektivs, der an der Herrschaft zumindest ‚mitwirken‘ kann – ausgeschlossen. Die ethnizistische Komponente des antiken demos-Begriffs ergibt sich einerseits den Einberufungslisten, die selbstverständlich nur die Landesbevölkerung umfassen, aber hier nicht notwendiger Weise auf die Herkunft der Landesbewohner abzielen, und andererseits aus der teleologischen Fassung des Griechisch-Seins, die zwangsläufig andere Herkünfte vom demos ausschließt. Insofern wirkt der Volksbegriff nicht erst durch den faschistischen Gebrauch eines „völkischen Volksbegriffs“[3] exkludierend und homogenisierend, sondern ist von Anfang an verwoben mit der Legitimierung von sozialer, politischer und moralischer Ungleichheit.
Die Konsequenzen, die sich aus dem antiken demos-Begriff ergeben, sind einerseits vernichtend gewesen, insbesondere für die weiblichen Kollektivmitglieder vergangener und gegenwärtiger Gesellschaftsordnungen. Andererseits hat die aristotelische Artikulation, dass „politische Herrschaft [nur] über Freie und Gleiche ausgeübt [wird]“[4], indem „alle über jeden herrschen und jeder wechselweise über alle“[5], Demokratie jenseits rechtsförmiger Institutionen im menschlichen Sein verankert. Mit einem demos-Begriff als Kollektiv all jener, die planerisches Verhalten, Reflexion über ein (aus ihrer Warte) gerechtes Zusammenleben und Organisation gemeinsamer Handlungen zu ihrem Daseinszweck erhoben haben, wird Demokratie zu einer Lebensform.
Diesem Pfad der anthropologischen, teleologischen oder ontologischen Auffassung von Demokratie folgten Philosoph*innen wie Hannah Arendt, John Dewey, Sheldon Wolin oder Jacques Rancière. So unterschiedlich ihre Ansätze sein mögen, so verankern sie doch alle Demokratie jeweils im menschlichen Sein. Aus dieser Perspektive sind politische Ordnungen nicht an ihren Resultaten, ihrem out-put, zu messen, sondern an den jeweils offerierten, akzeptierten oder erkämpften Möglichkeiten von politischer Teilhabe, Handlungsräumen und Organisationsformen. Arendt beispielsweise, identifiziert eine spezifisch menschliche Fähigkeit als Grund von Demokratie, nämlich „daß wir selbst aus eigener Initiative etwas Neues anfangen“[6] können. Sie stellt diese Fähigkeit „Prozessabläufen“[7] gegenüber, die durch das Neu-Beginnen unterbrochen werden. Das gemeinsame Sich-Verständigen über weltverändernde Handlungen lässt einen Kommunikationsraum, Arendt nennt diesen „Erscheinungsraum“, entstehen, der „vor allen ausdrücklichen Staatsgründungen und Staatsformen [liegt]“[8]. Der Erscheinungsraum gemeinsamen Handelns „liegt in jeder Ansammlung von Menschen potentiell vor“[9] und bezeichnet damit paradigmatisch konstituierende Macht. Demokratie ist aus dieser Perspektive immer und überall möglich, wenn Menschen kommunikativ die Welt verändern wollen. Arendts Demokratievorstellung ist nicht anti-institutionalistisch; sie geht durchaus davon aus, dass „die Stadtmauern und die Schranken des Gesetzes, welches die Polis einhegen“ notwendig seien, damit der Erscheinungsraum „überdauern“ kann[10]. Doch betonen die Demokratieauffassungen, welche in irgendeiner Weise im menschlichen Sein gründen, die Nicht-Identität von Institutionen und Demokratie. Auch John Dewey geht von sozialontologischen oder anthropologischen Annahmen aus. Gruppenmitglieder handeln kooperativ, lernen und kommunizieren gemeinsam und bilden so geteilte Interessen aus. Sein Konzept von Demokratie zielt vor allem auf gemeinsame oder geteilte Praxen eines Kollektivs: „Die Demokratie ist mehr als eine Regierungsform; sie ist in erster Linie eine Form des Zusammenlebens, der gemeinsamen und miteinander geteilten Erfahrung.“[11] Jacques Rancière auf die Seite einer ontologisch-anthropologischen Demokratieauffassung zu schlagen, erscheint vielleicht falsch oder unplausibel. Doch auch hier ist der Volksbegriff von der ontologischen Annahme bestimmt, dass das soziale Sein nie zu einer gleichen Zählung aller Kollektivmitglieder neigt. Es gibt immer einen „Anteil der Anteillosen“, der mitgezählt werden will, so dass jedes Kollektiv „von einem grundlegenden Streit geteil[t]“ wird und so zu einer „politischen Gemeinschaft“ wird[12]. Noch tieferliegend als das sozialontologische Faktum des Streits um die richtige Aufteilung erscheint das Bedürfnis, in gleicher Weise gezählt zu werden. Die Gleichheitsannahme – Rancière betont, ohne dass dies überzeugend wäre, dass sie keine anthropologische Annahme, sondern eine Entscheidung sei[13] – führt dazu, dass die Forderung nach gleicher Teilnahme, gleicher Teilhabe oder gleicher Zählung unabhängig vom institutionellen Setting konzipiert wird. Sie kann immer formuliert werden. Das demokratische Volk, der demos, so Rancière, ist „die Mehrheit statt der Versammlung, die Versammlung statt der Gemeinschaft, die Armen im Namen der Polis, das Applaudieren anstatt der Übereinkunft“[14]. Volk ist damit immer der ausgeschlossene oder ungleich gezählte Anteil, der nach gleicher Zählung strebt und Demokratie ist der Vorgang der Einforderung nach gleicher Zählung.
Juridische Variante
Eine signifikant verschiedene Perspektive auf Demokratie ergibt sich aus einem formalen, juridischen Volksbegriff, wie er von Jean- Jacques Rousseau und Immanuel Kant formuliert wurde. Im siebten Kapitel des ersten Buchs des Gesellschaftsvertrages entwirft Rousseau das souveräne Volk als einen formalen und juridischen Mechanismus: Jedes Mitglied des souveränen Volkes schließt einen Vertrag mit dem Kollektiv, in welchem der Gehorsam jedes Mitgliedes gegenüber den beschlossenen Gesetzen ebenso festgelegt wird, wie die Macht eines Jeden, am Gesetzgebungsprozess teilzunehmen. Die Teilnahme aller Gesetzesunterworfenen am Gesetzgebungsprozess sichert, dass das souveräne Volk keine Gesetze verabschieden kann, die ein den Einzelnen „widersprechendes Interesse“[15] ausdrücken. Ebenso ist es nicht möglich, dass sich das souveräne Volk „ein Gesetz auferlegt, das [es] nicht brechen kann“[16]. Diese Folgerung ist logisch, nicht politisch: Wenn mit Souveränität die höchste Autorität, die unbedingte Entscheidungsbefugnis, bezeichnet wird, kann über dem Vorgang der Volkssouveränität keine regulierende Norm angenommen werden, sonst wäre der Begriff Souveränität nicht erfüllt. Dass sich die Gesetzesunterworfenen keine sie selbst schädigenden Gesetze auferlegen, geht aus einer anthropologischen Zusatzannahme hervor, die Rousseau im ersten Entwurf des Gesellschaftsvertrages, dem sogenannten Genfer Manuskript entwickelt: „weil es gegen die Natur ist, dass man sie selbst schädigen will, was ohne Ausnahme gilt“[17]. Volkssouveränität ist insofern eine vertragsrechtliche, juridische Konstruktion, die keiner moralischen Norm unterworfen aber mit der anthropologischen Bestimmung der Nicht-Selbstschädigung ausgestattet ist.
Ähnlich zu Rousseau entwickelt Immanuel Kant einen politischen Volksbegriff, der sich aus dem Willen zur Gesetzmäßigkeit ergibt: „Die Idee einer mit dem natürlichen Rechte der Menschen zusammenstimmenden Constitution: daß nämlich die dem Gesetz Gehorchenden auch zugleich, vereinigt, gesetzgebend sein sollen, liegt bei allen Staatsformen zu Grunde, […]“[18]. Daraus ergibt sich zwar für Kant die Forderung, dass eine demokratische Staatsform eingerichtet werden soll, aber keine demokratische Regierung. Die demokratische „civitas“, die Staatsform, legt nur fest, dass „alle zusammen, welche die bürgerliche Gesellschaft ausmachen, die Herrschergewalt besitzen“[19], aber nicht, dass sie diese Gewalt auch anwenden dürfen. Während Rousseau die Ausübung der ‚Herrschergewalt‘ klar durch kollektive Selbstgesetzgebung konzipiert, kann sich Kant für diese Aufgabe auch Repräsentanten vorstellen.
Obwohl es beispielsweise für Ingeborg Maus eindeutig ist, dass sowohl Rousseau als auch Kant „Volk“ staatsrechtlich gebrauchen, muss ihr Volksbegriff notwendigerweise gespalten sein: Teil des souveränen Volkes sind nur Männer und – im Falle Kants – sogar nur wohlhabende. Da Frauen nun mal zur Reproduktion eines Volkes notwendig sind, konzipieren beide Philosophen gleichzeitig Volksherrschaft und Untertanenschaft. Iris von Roten benennt, in ihrem Kampf für das Frauenwahlrecht in der Schweiz, den Status der Frauen im Denken der Volkssouveränität folgerichtig als „regelrechte Untertanen im staatsrechtlichen Sinne“[20]. Weniger exklusiv zeigt sich der formal juristische Volksbegriff bezüglich einer möglichen ethnizistischen Komponente. Ingeborg Maus kann mit Verweis auf die französische Revolutionsverfassung von 1793 zeigen, dass das Volk der Volkssouveränität „mit einer modernen pluralistischen und multikulturellen Gesellschaft [kompatibel]“[21] ist: Diese sicherte nämlich „jede(m) Ausländer, der das Alter von 21 Jahren erlangt hat, in Frankreich seit einem Jahre ansässig ist und dort von seiner Arbeit lebt oder sein Besitztum erwirbt oder eine Französin geheiratet hat oder ein Kind annimmt oder einen Greis ernährt“[22] die Staatsbürgerschaft zu.
Aus dem staatsrechtlichen Status des Souveräns ergibt sich ein juridisches Herrschaftsverständnis: Die Mitglieder des souveränen Volkes herrschen durch Zu- oder Abstimmung zu oder von Gesetzen – das genaue institutionelle Design bleibt offen. Rousseau entwirft begleitend zur Selbstgesetzgebung dezentrale Einsätze der Volksherrschaft wie etwa ein praktiziertes Misstrauen gegenüber der Regierung, das sich in wachsamer Beobachtung, aber auch im Absetzen der Regierung und Ämterrotation äußert. Doch der Kern der juridischen Variante der Volksherrschaft ist die kollektive Beteiligung an der Gesetzgebung. Insofern ist beispielsweise auch Jürgen Habermas deliberative Demokratietheorie – auch wenn sein Diskursprinzip als anthropologische Verankerung von Demokratie gelesen werden kann – dieser Variante zuzuordnen.
Diskursive Variante
Für dasjenige Denken, das von einer semiotischen Verfasstheit des Sozialen ausgeht, sind diskursive Formationen die Basis von Volk und Herrschaft. „Rhetorische Mittel“, so Ernesto Laclau, der sowohl einen Volks- wie auch einen Herrschaftsbegriff anbietet und damit für die diskursive Variante maßgelblich ist, „wohnen den Logiken inne, die über die Konstitution und Auflösung aller politischen Räume walten“[23]. Weder (menschliches) Sein noch (rechtliche) Institutionen bilden nun den Ausgang für das Denken von Demokratie, sondern die in Zeichen gefasste symbolische Ordnung, welche natürlich jedes menschliche Kollektiv ausmacht. Soziale und politische Ordnungen, so die allgemeine Annahme des diskursiven Denkens, zu dem man Denker*innen wie Michel Foucault oder Judith Butler rechnen kann, werden durch Bezeichnungen geregelt, durch Regeln und Mechanismen wie Äußerungen produziert, verteilt und zugeteilt werden. Da das Sagbare unmittelbar das Denkbare strukturiert, wird Welt- und Selbstwahrnehmung im diskursiven Denken durch Sprach- bzw. Diskursregeln bestimmt. Dem diskursiven Denken verwandt ist beispielsweise auch der Ideologiebegriff Louis Althussers, der die Materialität der Äußerungen in Praxen, Ritualen und Institutionen konzipiert. In diesem Fall wird das Gedachte und demzufolge die Handlungsperspektive durch (staatlich geordnete) Institutionen hervorgebracht, die durch Rituale und Handlungsaufforderungen die Subjekte beispielsweise in den Stand versetzen, einer parteipolitischen Auseinandersetzung zuzuhören und an Wahlen teilzunehmen.
Eine diskursiv basierte Demokratietheorie wurde von Ernesto Laclau und Chantal Mouffe entwickelt – und mit dem wirkmächtigen Untertitel „Radikale Demokratie“ versehen. Laclau rekonstruiert den Vorgang der Entstehung der Bezeichnung „Volk“ oder noch treffender der Äußerung „Wir sind das Volk“ als Entstehung einer kollektiven Identität durch unerfüllte soziale Forderungen, die innerhalb einer diskursiven Formation gegen ein bestehendes System gestellt werden. „Volk“ bezeichnet nicht die Mitglieder einer Gruppe, sondern ist der gemeinsame Nenner von verschiedenen vorgebrachten Forderungen, die von der bestehenden Ordnung eines Kollektivs nicht erfüllt werden – sei es, weil die Ordnung nicht fähig ist, die Forderungen zu erfüllen, sei es, weil es widerstreitende Kräfte gibt. Die Frustration der Forderungen schafft eine affektiv aufgeladene Wir-Sie-Unterscheidung, die mit zusätzlichen diskursiven, rhetorischen Mitteln wie einer großangelegten Meta-Erzählung (die Arbeitenden gegen die Besitzenden; die Einheimischen gegen die Fremden; die Rechtgläubigen gegen die Ungläubigen – hier sind alle möglichen emanzipativen und repressiven Narrative einsatzbereit) auf jene Formulierung zuläuft, welche die maximale Größe und Legitimität der eigenen Gruppe gegen das System stellt: „Wir sind das Volk“. Wer zu diesem Volk dazugehört, wird nun nicht durch zählende Institutionen oder ontologische Annahmen, sondern über Identifikationsangebote („wir Arbeitenden“, „wir Leistungstragenden“, „wir hier unten“; „wir Familien“) und abgrenzende diskursive Zuordnungen („Arbeitsverweigerer“, „Heuschrecken“, „Elite“, „Kapitalisten“) bestimmt.
Aus dem diskursiven oder rhetorischen Volksbegriff ergibt sich eine völlig andere Perspektive auf Volksherrschaft, nämlich Demokratie als Hegemonie. Hier gibt es nun zwei Ebenen, auf denen Volksherrschaft etabliert werden kann: Auf einer politischen Ebene kann Volksherrschaft etabliert werden, indem jene Gruppe, die für sich erfolgreich den Volksbegriff besetzen konnte, – beispielsweise männliche Kollektivmitglieder mit einem messbaren Stand an Eigentum – die Ordnung aktiv und bewusst so zu beeinflussen versucht, dass diese Gruppe möglichst viel Macht, Entscheidungsbefugnisse und Vorteile hat. Beispielsweise etablierte das männliche (Groß)Bürgertum das Zensuswahlrecht für Männer, Erbrecht nur für Männer, Vergabe von politischen Ämtern mit hohem Gehalt an wahlberechtigte und gebildete Männer. Diese Ebene bleibt nur solange politisch, solange es um die Einrichtung dieser Verhältnisse geht. Wenn die Ordnung institutionalisiert ist, verfestigen sich die neuen Praktiken, Sitten, Rituale und Sprechweisen zu „sedimentierten Verfahrensweisen“ der gesellschaftlichen Sphäre, so dass sie „als selbstverständlich angesehen werden, als wären sie in sich selbst begründet“[24]. Die gesellschaftliche Sedimentierung ist also die zweite Ebene der Hegemonieherstellung. Volksherrschaft diskursiv zu begreifen bedeutet, dass es keinen Stillstand gibt, keine Verwirklichung eines legitimen Herrschaftsanspruches oder einer demokratischen Seinsweise, sondern nur die erfolgreiche Etablierung eines Teils des Kollektivs als Volk – oder als Volksdefinition – und als Hegemonie. Der andere Teil wird nicht ruhen, sondern versuchen, die etablierte Hegemonie anzugreifen. Voraussetzung für den steten Kampf um Hegemonie ist eine liberale diskursive Formation – da eine repressive Fixierung beispielsweise durch Einschränkung von Pressefreiheit, sozialen Medien oder Lehre und Forschung das Ringen um Deutungen und Identifizierungen be- oder verhindert.
Demokratie als artikulierter Herrschaftsanspruch des Volkes ist in allen drei Varianten denkbar. Jede Variante betont andere Aspekte, wie „Volk“ und „Herrschaft“ zu verstehen sind. Weder Demokratie als Lebensform, noch als kollektive Selbstgesetzgebung noch als Hegemonie deckt alle Aspekte ab. Die Pluralität der Demokratietheorien ermöglicht die Begriffe „Volk“ und „Herrschaft“ im Dienst der Artikulationsmöglichkeit des Herrschaftsanspruches immer wieder neu zu schärfen und auszurichten.
Dr. Dagmar Comtesse ist wiss. Mitarbeiterin am Philosophischen Seminar der WWU Münster und arbeitet hauptsächlich zur politischen Philosophie sowie zur franz. Aufklärungsphilosophie. Neueste Publikation: Mehr als der Gesellschaftsvertrag, in: Eberl/ Erbentraut (Hg.), Volkssouveränität und Staatlichkeit, Baden-Baden 2021, S. 35-61.
[1] ARISTOTELES, Politik, Stuttgart 2003, 1252a.
[2] ARISTOTELES , Politik, Stuttgart 2003, 1252a.
[3] HÖHN, Reinhard: Reich, Großraum, Großmacht, Darmstadt 1942
[4] ARISTOTELES, Politik, Stuttgart 2003, 1252b.
[5] ARISTOTELES , Politik, Stuttgart, 2003, 1317b.
[6] ARENDT, Hannah, Vita activa oder Vom tätigen Leben, München 2002, 215.
[7] ARENDT, Hannah, Vita activa oder Vom tätigen Leben, München 2002, 216.
[8] ARENDT 2002, 251.
[9] ARENDT 2002, 251.
[10] ARENDT 2002, 241.
[11] DEWEY, John, Demokratie und Erziehung, Braunschweig 1964, S. 121.
[12] RANCIÈRE, Jacques, Das Unvernehmen, Frankfurt 2002, S. 22.
[13] RANCIÈRE, Jacques, Method of Equality, in: Ders. Axel Honneth, Recognition or Disagreement: A Critiqual Encounter on the Politics of Freedom, Equality and Identity, Columbia UP 2016, S. 139.
[14] RANCIÈRE, Jacques, Das Unvernehmen, S. 23.
[15] ROUSSEAU, Jean-Jacques, Vom Gesellschaftsvertrag, Stuttgart 2022, S. 21.
[16] ROUSSEAU, Jean-Jacques, Vom Gesellschaftsvertrag, Stuttgart 2022, S. 20.
[17] ROUSSEAU, Jean-Jacques, Œuvres, Bd. III, Du Contrat social, 1. Version, Paris 1964, 329.
[18] KANT, Immanuel, Der Streit der Fakultäten, AA Bd. VII, S. 90.
[19] KANT, Immanuel, Zum ewigen Frieden, AA VIII, S. 352.
[20] VON ROTEN, Iris, Frauen im Laufgitter, Bern 1996, S. 491.
[21] MAUS, Ingeborg, Zur Aufklärung der Demokratietheorie, Frankfurt 1992, S. 203.
[22] MAUS, Ingeborg, Zur Aufklärung der Demokratietheorie, Frankfurt 1992, S. 205.
[23] LACLAU, Ernesto, Die populistische Vernunft, Wien 2022, S. 44. (Herv. i. O.)
[24] MOUFFE, Chantal, Die Politik und das Politische, in: Dies., Über das Politische, Frankfurt 2007, S. 26.